Wir trauern um Gabriele Naundorf, die am 25. März 2025 im Alter von 81 Jahren verstarb.
Gabriele Naundorf war über Jahrzehnte das Herz des Wannseeheims für Jugendarbeit e.V. und später der Stiftung wannseeFORUM. In einem Trauercafé im wannseeFORUM haben Familienangehörige, Freundinnen und berufliche Weggefährt:innen Erinnerungen und Würdigungen zusammengetragen: zu ihrem Wirken in der Bildungsstätte, ihrem Einsatz für eine emanzipatorische Mädchen- und Frauenbildungsarbeit, ihre jugendpolitische Bedeutung und nicht zuletzt zum Gedenken an Gabriele als solidarische, zugewandte und konstruktiv-streitbare Freundin, Kollegin, Kooperationspartnerin und Vorgesetzte.
Gabriele Naundorf war eine herausragende Persönlichkeit in der deutschen Bildungslandschaft und hat insbesondere die Mädchen- und Frauenbildung maßgeblich geprägt. Sie engagierte sich über Jahrzehnte für die Förderung von Mädchen und jungen Frauen und war eine treibende Kraft in der Entwicklung von Konzepten und Projekten, die zu mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft beitragen.
Das berufliche Engagement von Gabriele Naundorf begann 1972, als sie als Bildungsreferentindes Wannseeheims für Jugendarbeit Pionierarbeit leistete und die ersten Konzepte für eine emanzipatorische Mädchenbildung erarbeitete. Sie entwickelte und leitete Kurse für Mädchen, die an deren Stärken und Interessen anknüpften und ihnen nicht nur Wissen, sondern auch das Selbstvertrauen vermittelten, ihre eigenen Interessen zu verfolgen und ihren Platz in der Welt zu finden. Diese Kurse waren oft ganzheitliche, begeisternde Bildungserlebnisse für die Teilnehmerinnen.Sie verbanden Vorträge, Exkursionen mit Interviews, Bild, Musik und Tanz. Nicht selten gaben sie Anstoß für spätere berufliche und persönliche Lebensentscheidungen. Viele Kurse richteten sich gezielt an Hauptschülerinnen, eine in der Bildungsarbeit bis dahin eher vernachlässigte Zielgruppe, und begeisterten sie für „fremde Welten“ wie Geschichte oder Technik.
Gabriele Naundorf wurde in Theorie und Praxis Mitbegründerin der Mädchen- und Frauenbildungsarbeit in der Bundesrepublik. Sie hat dazu beigetragen, dass Jugendpolitik nicht zuvörderst Politik für Jungen war. Und sie hat wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung dieser Arbeit im vereinten Deutschland gegeben. Einige wichtige Stationen daraus:
- Zunächst ging es darum – mühsam genug! – emanzipatorische Konzepte der Mädchen- und Frauenbildungsarbeit innerhalb der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung selbst, bundesweit zu etablieren. Forum dafür war der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB), zu dessen Gründungsmitgliedern das Wannseeheim für Jugendarbeit gehörte. 1979 gelang es gegen zum Teil erheblichen Widerstand, einen Beschluss für eine eigenständige Kommission „Mädchen- und Frauenbildung“ im AdB durchzusetzen: eine große Unterstützung für die Pädagoginnen in den Mitgliedseinrichtungen.
- Der AdB war es dann, der Gabriele Naundorf als Expertin für die Sachverständigen-kommission zum 1984 vorgelegten 6. Kinder- und Jugendbericht „Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen in der Bundesrepublik“ vorschlug. Sie wurde als eines der sechs Mitglieder der Sachverständigenkommission berufen, und konnte sich hier für eine umfassende politische und argumentative Unterstützung der Mädchenbildungsarbeit in der Bundesrepublik engagieren. Denn erstmals sollte die gesellschaftliche und individuelle Situation von Mädchen umfassend untersucht und der Bundesregierung und dem Bundestag berichtet werden; in allen fünf vorhergehenden Jugendberichten wurde quasi automatisch Jugend mit Jungen gleichgesetzt. Gabriele Naundorf kannte für viele Themenbereiche im 6. Kinder- und Jugendbericht ausgewiesene Fachfrauen und schlug sie erfolgreich für Expertisen der Sachverständigenkommission vor.
Themen waren u.a. Inklusion und Migration, Sozialisation und Erwerbswelt, Mädchen in der Provinz und in der Jugendhilfe, Mädchenbild in Medien, Kultur und Geschichte, der Streit um die Koedukationund als besonders heikles, neues Thema sexueller Missbrauch im sozialen Nahfeld, in der Familie.
- 1986 fand mit Unterstützung der Berliner Frauenbeauftragten und in Kooperation mit der Fortbildungsstätte Haus am Rupenhornunter fachlicher Federführung von Gabriele Naundorf die erste der bundesweiten Frauenfachtagungen statt, die dann bis 2008 jährlich im wannseeFORUM angeboten wurden. Diese Fachtagungen mit dem Obertitel „Weiblichkeit als Chance“ entstanden als originärer Ort für die Verbindung dersich entwickelnden Frauenforschung mit der Praxis der Mädchenarbeit. Sie bezogen klar Position gegen den Defizit-Ansatz, der Mädchen und Frauen auf die Opferrolle reduziert. Die Frauenfachtagungen erfuhren im dann vereinten Deutschland gleichfalls erhebliche Resonanz und hatten auch Teilnehmerinnen aus dem deutschsprachigen Ausland.
Es war Gabriele Naundorfs unermüdliches Engagement – ab 1999 dann als Leiterin des Wannseeheims für Jugendarbeit –, das den Weg für die politische Anerkennung und Förderung emanzipatorischerMädchenbildung ebnete. Ihr Einfluss auf die deutsche Bildungslandschaft war nicht nur in der Jugendpolitik und der Bildungstheorie, sondern auch in der Praxis der Bildungsarbeitvon unschätzbarem Wert. Dabei war sie stets offen für neue Ansätze und Projekte, wenn dabei ihr Wertekanon der Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung geteilt wurde. Ihre Bereitschaft, neue (nicht nur feministische!) Konzepte in die Bildungsarbeit einzubauen und somit neue Perspektiven zu integrieren, haben wir immer sehr geschätzt.
Gabriele Naundorfs Engagement für die Praxis der Mädchenarbeit zeigte sich unter anderem in dem Modellversuch „Mädchenarbeit im Stadtteil“, aus dem heraus der MaDonna-Mädchentreff in Berlin-Neukölln entstand. Gemeinsam mit Gabriele Heinemann war sie dessen Gründerin und leistete dort jahrelang Vorstandsarbeit. MaDonna steht bis heute für interkulturelle Stadtteilarbeit und das Empowerment von Mädchen und jungen Frauen.
Später, als stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung wannseeFORUM ab 2011, zeigte Gabriele Naundorf auch im „Ruhestand“ eine ungebrochene Leidenschaft für die Themen, die ihr am Herzen lagen. Sie setzte sich weiterhin für eine offene Debattenkultur und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen ein, besonders im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte von Frauen und Mädchen.
Als Verfasserin der Dokumentation „Vom Wannseeheim für Jugendarbeit e.V. zur Stiftung wannseeFORUM – 70 Jahre politische und kulturelle Bildung in 7 Stationen“ (2012) überlieferte sie uns ein bedeutendes Stück Zeitgeschichte. Sie zeigte darin die Leistungen, die Krisen, aber vor allem auch die Besonderheiten dieses Hauses auf, die seit über 70 Jahre seine Strahlkraft ausmachen.
Doch Gabriele Naundorf war nicht nur eine unermüdliche Kämpferin für die Rechte von Mädchen und Frauen, sondern auch eine wunderbare Freundin, die mit ihrer Lebensfreude und ihrer Solidarität das Leben der Menschen, die ihr nahestanden, bereicherte. Sie war stets hilfsbereit und großzügig, sei es bei der Betreuung von Katzen oder bei der unbürokratischen Bereitstellung ihres Autos für Reisen oder Transporte. Ihre Freundschaften waren geprägt von Offenheit, Respekt, Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung – Werte, die sie nicht nur in ihrer beruflichen, sondern auch in ihrer privaten Welt lebte.
Der Tod von Gabriele Naundorf hinterlässt eine Lücke, die in der deutschen Bildungslandschaft und in den Herzen derjenigen, die mit ihr zusammenarbeiteten, spürbar sein wird. Ihr Leben war ein Leben des Engagements für Gleichberechtigung und Emanzipation, für die Förderung von Mädchen und Frauen und für die Überzeugung, dass Bildung der Schlüssel zur Veränderung der Welt ist. Ihr Werk wird weitergetragen in den vielen Projekten, die sie initiiert hat, und von den unzähligen Menschen, die von ihrer Arbeit profitierten – insbesondere im wannseeFORUM, das sie so beschrieb: „Dieser schöne Ort außerhalb des Schul- oder Arbeitsalltags ist perfekt geeignet, neue Gedanken und entsprechend eine neue Haltung zu wagen.“ Gabriele Naundorf war über Jahrzehnte das Herz dieses Hauses,inspirierender Geist und Bewahrerin seiner Schönheit.
Wir sind dankbar, dass wir zu ihrem Freundeskreis und zu ihren beruflichen Weggefährtinnen gehörten, und behalten sie als begeisterte und begeisternde Mitstreiterin in Erinnerung.
